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Interview mit „darkviktory“
Marik Roeder

Marik Roeder aka darkviktory, geboren am 14. August 1989 in Spandau, ist Animationskünstler, Buchautor, Zeichner, Grimme Online-Award-Preisträger – und mit der Hörspielserie Schreib Mich Ab auch Schöpfer eines der erfolgreichsten deutschen Podcasts, denn die Produktionen werden in Kooperation mit dem rbb und Funk zweiwöchentlich als Podcast veröffentlicht. Womit Roeder sich auch einen Traum erfüllt hat, denn Hörspiele waren und sind für ihn mehr als schöne Kindheitserinnerungen.

Dass ihm beim Erzählen von Geschichten glücklicherweise nicht nur der bloße Unterhaltungsaspekt wichtig ist und welche Triebfedern es für ihn bezüglich seiner Kunst gibt, das lest ihr auf den folgenden Seiten.

THEMENHINWEIS/TRIGGERWARNUNG:
Es geht auch um die Themenbereiche Depressionen, Mobbing und Queerfeindlichkeit.

VORWORT

Das Interview ist in drei Themenblöcke unterteilt. 

Insgesamt gibt es 25 Fragen und Antworten.

In den ersten beiden Themenblöcken je 10 Fragen und Antworten. Im letzten 5 Fragen und Antworten. 

Themenstichworte:

#Hörspiele #Kassettenkind #DreiFragezeichen #Hörspielproduktion #queer #Depressionen #YouTube #Animation #GrimmeOnlineAward #Queerfeindlichkeit #Synchronsprecher #Produktionsabläufe #GenerationZ

1. About darkviktory:
Die Person hinter dem Projekt

RD: In deinem ersten Blog beziehst du dich auf Sigmund Freund: „Sigmund Freud bezeichnet die Melancholie als psychosomatische Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts.“ Auch führst du auf: „Melancholie ist ein Zustand des Leidens und der Trauer, gekoppelt an Verlustängste und Komplexe, auf die beim Melancholiker ungeahnte Kreativität folgen kann.“ Seither ist über ein Jahrzehnt ins Land gegangen – ein Jahrzehnt, in dem du in den unterschiedlichsten Contentbereichen aktiv warst, überaus kreativ und mehrfach ausgezeichnet; Animation, YouTube, Literatur, Theater, Hörspiel, Deutscher Webvideopreis, Grimme Online Award – wie melancholisch bist du heute? 

MR: Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht, haha. Meinen Blog „The Melancholy of darkviktory” habe ich 2008 gestartet, um ein Outlet für die Trennung und den Struggle mit meiner ersten großen Liebe zu haben. Dabei handelte es sich um meinen besten Freund, mit dem ich viele Jahre eine geheime On-Off-Beziehung führte. Damals dachte ich, meine Melancholie wäre etwas Positives, das mir tatsächlich etwas Gutes bringt: Kreativität – denn in meinen „melancholischen“ Phasen habe ich geschrieben und geschrieben, um mich mit mir selbst und meinem Innersten auseinanderzusetzen. Wer bin ich? Was will ich? Wie stoppe ich diese Gefühle und das Leiden? Es war eine Form von Selbsttherapie, da es niemandem gab, dem ich mich anvertrauen konnte. Heute weiß ich, dass ich sehr stark an Depressionen litt und diese Selbsttherapie dem Ausmaß des Problems nicht gerecht wurde. Ich konnte das gar nicht allein schaffen. Diese Melancholie war ein Kampf mit mir selbst, Herr über meine Gefühle zu werden, die Schriften nur ein Zeugnis meiner Minderwertigkeitsgefühle, meines Selbsthasses und meiner Verzweiflung. Erst 2021, nach 13 Jahren und Therapie, konnte ich erstmals wirklich ausführlich darüber sprechen und hab all diese Gefühle zugelassen – in animierter Videoform auf meinem YouTube-Kanal. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich diese Melancholie nie loswerde. Sie ist, wie eine Kiste voll Schmerz, die ich alle paar Jahre ausschütte, um zu sehen, was in ihr steckt – wie man es manchmal mit alten Erinnerungsstücken auf dem Dachboden tut. Ich glaube, der emotionale Kern jedes meiner Werke lässt sich bis heute irgendwie auf dieses Trauma zurückführen, das mein Leben damals ziemlich auf den Kopf gestellt und mich geformt hat.

Die Welt ist aktuell kein sonderlich schöner Ort, was das tatsächliche, aber auch das politische Klima und soziale Missstände angeht.

RD: In deinen Werken spielen immer wieder soziale Themen und Schieflagen eine Rolle, insbesondere Ausgrenzung und/oder Anschlussprobleme von „Außenseiter*innen“, sowie -nennen wir es „Herausforderungen-, vor denen vor allem queere Menschen in der Gesellschaft stehen. Da all diese Themen in den letzten Jahren wieder deutlich präsenter wurden und viele gesellschaftliche Fortschritte durch den reaktionären Backlash der letzten 10-15 Jahre wieder zur Disposition stehen: Wie siehst du die derzeitige Situation und ist das eine der Triebfedern, weshalb du Inhalte insbesondere für jüngere Zuschauer*innen und junge Erwachsene mit diesen Problematiken und Themen produzierst?

MR: Die Welt ist aktuell kein sonderlich schöner Ort, was das tatsächliche, aber auch das politische Klima und soziale Missstände angeht. Durch diese zunehmende Unsicherheit sehnen sich viele Menschen nach etwas Beständigem, Konservativem – nach dem „guten Alten“, wo alles vermeintlich einfacher war. Das ignoriert aber nun mal die zunehmende Komplexität der sich immer schneller verändernden Welt und auch die von uns als Individuen. Das Konzept von Queerness und dass sich einige Leute nicht mehr in klassische Schubladen sortieren wollen, passt nicht zum Wunsch nach Stillstand und der Sehnsucht nach Einfachheit. Ich glaube, das Problem ist, dass diese verhärteten Fronten aufeinanderprallen, ohne dass ein Verständnis entsteht. Im Gegenteil: Jeder fühlt sich direkt attackiert und schießt zurück, statt einen Vertrauensvorschuss zu geben und sich auf einen Dialog einzulassen. Ich habe das Gefühl, meine gesamte Jugend wurde mir eingebläut, dass es nicht nur gut und böse, schwarz und weiß gibt – und plötzlich sind wir wieder in einer Welt, wo jeder – und damit meine ich auch die Queer-Community mit – nur noch mit dem Finger zeigt und Menschen in Feind und Freund einteilt. Selbst innerhalb der Community.

Mein Ziel ist es, durch meine Geschichten zum Differenzieren anzuregen und wieder mehr zu streiten. Konflikte sind nicht automatisch etwas Schlechtes, sondern eine Chance zu lehren, zu lernen, Brücken zu schlagen und Kompromisse zu finden. Ich glaube, wir alle sollten einen tiefen Blick in den Spiegel werfen und bei uns anfangen, bevor wir mit dem Finger zeigen wollen. Selbsterkenntnis, Reflektion und Imperfektion sind große Themen in all meinen Werken. 

Auch wenn der Erfolg von z.B. HEARTSTOPPER beweist, dass es einen Markt für wholesome Stories gibt, zeigt mir das Feedback aus der Community, dass die Lebensrealität vieler junger queerer Menschen anders aussieht.

RD: Depressive Menschen „sollen sich mal nicht so anstellen, einfach mal lachen, dann geht das schon“. Queere Personen „sollen einfach aufhören, ständig allen ihre perverseren Neigungen auf die Nase binden, das ist Privatsache!!!1eins! Außerdem: Was wollt ihr denn noch alles? Ihr dürft doch schon alles, wollt bestimmt wieder ’ne Extrawurst!“. Und Außenseiter*innen „sollen sich mal fragen, ob es nicht an ihnen liegt!“ Marginalisierte Gruppen werden von privilegierten Personen mit, nennen wir es „Empathieherausforderung“, oftmals mit verbaler oder physischer Gewalt angegriffen. Die Resultate daraus sind für die betroffenen Personen negativ prägend, oftmals sogar traumatisierend. Und die Auswirkungen setzen oft auch eine Spirale in Gang: Als queerer Mensch an einer Depression zu erkranken, das gehört leider zum Alltag vieler. Ausgrenzung und Bullying, deren Auswirkungen insbesondere im Jugendalter massiv schädlich sind, machen es für viele noch schwerer, auch oder vor allem psychisch unbeschadet aufzuwachsen. Und von einem gesellschaftlich unbehelligten Leben ist man in etlichen Bereichen und vielerorts noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entfernt – selbst im gemeinhin als tolerant geltenden Berlin, wo fast täglich Negativschlagzeilen aus dem LGBTQI*-Bereich wie „schwules Paar von Gruppe attackiert“, „trans Frau von mehreren Männern verprügelt“, „lesbisches Paar von Jugendlichen beleidigt“ zu lesen sind. Wenn man derlei Missstände kreativ verarbeiten und mit den Ergebnissen vielleicht einige Personen zum Nach-, ggf. Umdenken bewegen kann, das kann ich mir als starke kreative Triebfeder gut vorstellen. Ist dieser Themenbereich für dich besonders wichtig? Siehst du deine Kunst auch als eine Form von Aktivismus?

MR: Definitiv. In der Stoffentwicklung wurde mir gesagt, wir sollten das Schwulsein einfach und unproblematisch zeigen, um queeren Personen positive Geschichten zu geben und Angst zu nehmen. Und auch wenn der Erfolg von z.B. HEARTSTOPPER beweist, dass es einen Markt für wholesome Stories gibt, zeigt mir das Feedback aus der Community, dass die Lebensrealität vieler junger queerer Menschen anders aussieht. In einer Befragung meiner Zuschauer während der Entwicklungsphase zu SCHREIB MICH AB erzählten unglaublich viele von Ausgrenzung und Mobbing auf Grund ihrer Sexualität oder Identität. Beschrieben das Outing auch heute noch als größte Angst und ihre Sexualität als ein Geheimnis, das niemanden an der Schule etwas angeht. Daher kann eine „perfekte Welt“ zu zeigen, auch eine gewisse Traurigkeit auslösen und falsche Erwartungen an die Wirklichkeit schüren. Mir ist es daher wichtig, Geschichten raw zu erzählen – die positiven Ekstasen, aber auch das Offenlegen innerster Ängste und äußerer Bedrohungen. Storytelling ist immer ein Drahtseilakt zwischen Inspiration und Desillusionierung – zwischen harter Wahrheit und einem Was-könnte-sein. Daher ist eine gut erzählte Geschichte mit Gewicht auch immer eine Form von Aktivismus.

RD: Wie ist deine „Hörspiel-Historie“? Und wie kommst du vom visuelllastigen Animationsbereich zur Kunstform Hörspiel, deren Reiz vor allem in der Abwesenheit visueller Elemente besteht?

MR: Ich bin ein klassisches Kassettenkind: Groß geworden mit den drei ???, Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg und diversen anderen Hörspielen – sei es Räuber Hotzenplotz, Winnetou oder später Digimon. Als Kinder haben mein Bruder, meine Cousinen und ich schon eigene drei ???-Folgen erfunden und aufgenommen. Daher liegt mir das Hörspiel als Erzählform wirklich am Herzen. Und da sind wir schon beim nächsten Punkt, denn ich verstehe mich selbst als Geschichtenerzähler – in welcher Form ist für mich sekundär. Ich habe Animationen veröffentlicht, aber auch schon Comics oder Bücher. Das Medium spielt da keine Rolle. Was viele nicht wissen: Auch bei Animationen steht am Anfang eine Art „Hörspiel“ – denn zuallererst wird das Skript geschrieben und vertont, bevor wir überhaupt anfangen zu animieren. Häufig auch schon mit rudimentären Soundeffekten, sodass mein Animationsteam ein akustisches Bild und dadurch ein Gefühl für die Szene und das Timing bekommt. Also dachte ich mir, wieso produzieren wir nicht direkt ein Hörspiel – aber interaktiv mit dem Publikum zusammen?  

RD: Falls du in deiner Kindheit/Jugend Hörspiele gehört oder gesammelt hast: Welche waren das?

MR: Die oben schon genannten. Mein Bruder und ich waren früher mit meinem Dad bei jeder Record Release Party der drei ??? – schon, als sie noch winzig, winzig klein waren und von der Lauscherlounge organisiert. Mit 12 oder 13 war ich dann bei einer Live-Lesung mit David Nathan und Nana Spier, die Geschichten aus Buffy – im Bann der Dämonen vorgelesen haben und vor kurzem bei einem Bibi & Tina Live-Event. Dazwischen natürlich bei allen drei ??? Großevents in der Waldbühne. Zu sehen, wie die Illusion einer Szene direkt vor deinen Augen erzeugt wird, durch Musik, Geräuschemacher und talentierte Sprecher, ist unglaublich inspirierend und ließ mich früh wissen: Das will ich auch mal machen.