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Produktionsinfos:

Die Mitte der Welt
Hörspiel nach dem Roman von Andreas Steinhöfel
blubb. Hörspiele, mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlages
Genre: Drama, Coming of Age
Erschienen in drei Teilen, 2012

Produktion:
Regie: Katrin Berger, Tom Raczko
Musik, Geräusche & Schnitt: Tom Raczko
Cover: Stephan Giesau, Raoul Pattberg

Es sprechen:
Tom Raczko, Katrin Berger, Julia Burkhardt, Mira David, Etienne Pattberg, Linnéa Große, Stephan Giesau, Anja Lehmann, Henrik Schulz, Raoul Pattberg, Clemens Fillinger, Sebastian Langer, Ferdinand Junghänel

Darum geht es:

„Die Mitte der Welt“ stellt das Leben des siebzehnjährigen Phil in den Mittelpunkt. Phil lebt mit seiner Zwillingsschwester Dianne sowie seiner jungen Mutter und emigrierten Amerikanerin Glass in der „Villa Visible“, einer großen Villa abseits des Dorfes, die Glass von ihrer verstorbenen Schwester erbte und die ihre besten Tage bereits hinter sich hat, doch eine ganz eigene Welt für die drei darstellt. Glass erzieht Phil und Dianne sehr frei, was im krassen Gegenteil zu den Vorstellungen vieler Dorfbewohner steht und somit Konfliktpotential bietet. Dass zwischen Mutter und Schwester nach Phils Rückkehr von einer Reise zudem eine unheilvolle Eiszeit herrscht und ein düsteres Familiengeheimnis aus vergangenen Jahren nach und nach an die Oberfläche drängt, macht es für ihn in einer ohnehin schon turbulenten Zeit nicht gerade einfacher sich zurechtzufinden.

Ein Zusatz vor der eigentlichen Rezension:
Die Formulierung „stellt das Leben des siebzehnjährigen Phil in den Mittelpunkt“ ist bewusst gewählt, denn gemeinhin sind bei deutschen Dramen meist andere Beschreibungen passender, nämlich das ausufernde Thematisieren und Dramatisieren von *Problemen* – und *nur* dieser. „Die Mitte der Welt“ hingegen gerät nicht in diese Schieflage, sondern bildet das Leben als solches ab. Zwar auch die Probleme, doch ebenfalls die Hochs und ist somit so weit entfernt von den obligatorischen Betroffenheits- und Zeigefinger-Machwerken, wie es nur geht. Mehr dazu in der Rezension:

 

In Wuppertal fand „Die Mitte der Welt“ im April 2018 dreimal als Live-Hörspiel im Live-Club Barmen statt: Fr., 13.4.2018 (19:30 Uhr), So., 15.4.2018 (18:00 Uhr) und Mo., 16.4.2018 (10:00 Uhr) für Schulen.

Impressionen von der Premiere:

TomRaczkoStill

Produktionsfragen an Tom Raczko:

Wie lang hat die Produktion gedauert?
Insgesamt haben wir etwa 2 Jahre an der Produktion gearbeitet.

Welchen Inszenierungsansatz habt ihr gewählt ?
Wir haben uns für eine Mischung aus lyrischer Metaerzählung, abstrakt gehaltenen szenischen Momenten und Klangcollagen entschieden, um der Sprache des Romans gerecht zu werden.

Laiensprecher in den Nebenrollen – warum?
Wir waren sehr jung und wollten das Genre auf ungewohnte Weise ausreizen, sodass wir neben dem ungewöhnlichen Spielstil auch hier ein Experiment durchgeführt haben.
Uns fragen immer wieder Leute, ob sie bei blubb. mitsprechen können. Aufgrund der vielen kleinen Nebenrollen haben wir viele neue Stimmen ausprobiert, von denen einige auch danach immer wieder für blubb. gesprochen haben.

War die Lauflänge von über 6 Stunden von Anfang an geplant?
Absehbar war, dass es lang wird. Aber wie lang genau, haben wir tatsächlich dem Zufall überlassen.

Mehr Ensembleaufnahmen oder mehr ge-x-t?
Wir haben ausschließlich ge-x-t aufgenommen.

Wie hat Autor Andreas Steinhöfel auf das Hörspiel reagiert?
Andreas hat uns in dieser Zeit wunderbar mit Posts in seinem Blog unterstützt.
Auszug aus seinem Blog:

(…) was bis jetzt aus den Lautsprechern kam, ist wirklich ganz, ganz fein! (…) Bitte nicht versäumen, auf derselben Seite unter Extras den (ebenfalls von Tom Raczko stammenden) Soundtrack zum Hörspiel runterzuladen … way too cool! Und entschieden passend zu den derzeitigen frostigen Temperaturen draußen.

Welche Szene war die schwierigste?
Allein für die ersten Sätze haben wir uns 3 Monate Zeit genommen. Wir wollten einen eigenen Ton für Andreas tolle Sprache finden. Diese Zeit war sehr intensiv und hat großen Spaß gemacht. Bei kommerziellen Produktionen ist oft keine Zeit für solche Experimente. Eine wertvolle Erfahrung, die ich stets bei mir trage.

Was ist deine Lieblingsszene?
Eine meiner Lieblingsstellen ist die Szene, in der Phil mit seiner Mutter Glass über einen großen Verlust spricht und versteht, dass er ihn akzeptieren muss. Außerdem mag ich so ziemlich alle Szenen mit Nicholas.

Was war der lustigste Momente bei den Aufnahmen?
Davon gab es viele! Julia Burkhardt sprach neben Glass in einer Szene außerdem die patente Krankenschwester Marthe. Sobald sich eine Gelegenheit bot, fing Julia an, in ihrer Marthe-Charge zu improvisieren und hielt Monologe über Patienten, den Chefarzt und was sonst noch so im Krankenhaus vor sich ging. Diese Improvisationen haben wir natürlich mitgeschnitten, aber nie im Hörspiel verwendet.

Meine Meinung:

Die Geschichte:

Steinhöfels Geschichte, so märchenhaft sie teilweise auch erzählt wird, hat einen Punkt, der sie a. seit mittlerweile  zwei Jahrzehnten relevant macht und b., es seit ebenso langer Zeit versteht, quer durch Alter und Geschlechter zu begeistern, mehr noch: Teilweise sogar Leben zum Besseren zu verändern. Dieser Punkt lautet Authentizität. So schräg beispielsweise der Charakter von Phils Mutter Glass sein mag, so viele Schicksalsschläge, wie Phil selbst einstecken muss, so (bewusst) scharf die Trennlinie zwischen den „Außenseitern“ und den „kleinen Leuten“ (bzw. den „Jenseitigen“) auch sein mag: Es ist alles nachvollziehbar. Keine der Figuren, so schrullig sie auch manchmal sein mögen, fällt aus diesem Bereich, alle scheinen ein glaubwürdiges Leben zu führen. Die einen sehr offen, andere mit (teilweise sehr, sehr düsteren) Geheimnissen. Einige sehr extrovertiert, andere introvertiert. Alle jedoch mit Höhen und Tiefen und nachvollziehbaren Motivationen. Sogar die vom Autor bewusst gewählte Unnahbarkeit oder „fehlende Tiefe“ einer Figur, deren Namen ich hier nicht nennen möchte, da es durchaus in den Bereich Spoiler fiele, ist zwingend notwendig und gleichsam gesteht Steinhöfel dieser Figur doch so viel Hintergrund zu, dass selbst diese Figur lebendig wirkt.

Die Geschichte verwehrt sich zudem gänzlich der obligatorischen Gut-Böse-Einteilung. Selbst zwei Personen, auf die ich nicht näher eingehen möchte, da ansonsten ein großer Teil der Handlung gespoilert wäre, die man am ehesten in die „Bösewicht“-Schublade stecken könnte, bekommen durch die Vorgeschichte soviel Tiefe, dass das Schwarz-Weiß-Denken gar nicht erst stattfinden kann. Und genau das ist vielleicht einer der stärksten Aspekte überhaupt: Dass Steinhöfel sich zwar märchenhafter Elemente bedient, aber weder im positiven noch im negativen Extrem endet. Er zeigt, was eine offene Gesellschaft bedeuten kann, aber er ignoriert die Realität nicht. Umgekehrt bietet „Mitte“ zwar auch reichlich unschöne Momente, die die „Außenseiter“ erleben müssen, zeigt aber auch, dass es -um einmal mein Lieblingszitat aus „The Crow“ zu bringen- nicht immer regnen kann. Dass das Leben nicht nur aus wunderbaren Erfahrungen in einem geschützten Umfeld besteht -wie Phils und Diannes Kindheit in Visible-, sondern einem oft den Boden unter den Füßen wegzieht, oder das Herz herausreißt. Und dass es trotzdem weitergeht. Irgendwie. Und irgendwann wieder besser wird. Und dass jeder Mensch nicht nur verletzt werden kann, sondern auch das Zeug dazu hat, andere zu verletzen. Eben kein Schwarz-Weiß-Denken.

„Liebe ist ein Wort, dass du nur mit blutroter Tinte schreiben solltest. Liebe treibt dich dazu, die seltsamsten Dinge zu tun. Liebe schlägt dir tiefe Wunden, aber auf eine ihr eigene Art heilt sie auch deine Narben, vorausgesetzt du vertraust ihr und gibst ihr die Zeit dazu. Meine Narben werde ich nicht anrühren. Ich werde neue Wunden davontragen, noch ehe die alten verheilt sind, und ich werde anderen Menschen Narben hinzufügen. Jeder von uns trägt ein Messer.“

Vom Moment an, als Glass die USA verlässt, bis zum Ende, als Phil eben genau dorthin aufbricht, passieren unglaublich viele Dinge. Viele davon schön. Viele schrecklich und schmerzhaft. Einige fast schon bizarr. Andere wiederum und wortwörtlich märchenhaft. „Die Mitte der Welt“ bietet eine unglaubliche Menge an Momenten, an Zeitsprüngen in der Erzählung, an ausgefeilten Charakteren mit jeweils ganz eigenen und zutiefst menschlichen Handlungssträngen. Und zumindest im Fall der Hauptfiguren Phil, Glass, Dianne, Nicholas und Kat auch Katastrophen im Sinne klassischer Tragödien.

Dabei greift „Mitte“ jede Menge Themenbereiche auf, die viele Hörer (leider) aus eigener Erfahrung kennen dürften, ignoriert dabei glücklicherweise die obligatorischen „Genre-Schubladen“, denn Roman wie Hörspiel sind vieles, nur nicht kategorisierbar. Den Hörer erwartet ein Drama, eine Coming-Of-Age-Geschichte, rein tragische Momente (nicht nur im Bezug auf die Liebe), einige komische Momente, zwischendurch eine Prise Mystik, letztlich eine (vermutlich) zeitlose Geschichte, zusammengehalten und gleichermaßen gesprengt durch eine non-lineare Erzählweise, auf die vermutlich sogar Quentin Tarantino neidisch sein könnte.

Womöglich werden sich einige fragen, weshalb ich auf einen Punkt nicht direkt zu Beginn einging, da „Mitte“ gern darauf reduziert wird, wenn es um eine kurze Inhaltsangabe geht. Mit Phil schickt Steinhöfel einen schwulen Protagonisten in die Erzählung. Der Grund, weshalb dies für die reine Handlung nicht wichtig ist, ist der, dass Phils Homosexualität nicht wie in deutschen Filmen und im TV gern gemacht, problematisiert oder dramatisiert wird. Steinhöfel ist mit seiner Erzählung 1998 bereits dort gewesen, wo beispielsweise die Briten mit öffentlich-rechtlichen Formaten wie „Doctor Who“, „Torchwood“ und „Class“ ebenfalls seit über einem Jahrzehnt sind, oder was der gerade mit einem Oscar ausgezeichnete Film „Call Me By Your Name“ auch schafft: Homosexualität nicht als Problem, sondern Teil des Lebens darzustellen. Das Leben an sich bereitet dann natürlich Probleme, doch Phils Homosexualität ist keines davon. Auch entspricht Phil ganz und gar nicht den durch dutzende von „lustigen“ Komödien gefestigten Klischees vom eindimensionalen „dauerlustigen Schwulen“ oder dem anderen Extrem vor allem deutscher Produktionen, dem Teenager, der sich am Ende das Leben nimmt. Nein, das ist das Schöne an Steinhöfels Erzählung: Phil ist völlig normal, kein Superheld, kein Mad Genius – und keinesfalls „nur“ eine LGBTQ-Identifikationsfigur, obschon er gerade für LGBTler so wichtig sein dürfte, weil er eben keine Witz- oder Problemfigur ist, sondern völlig zugänglich, dreidimensional und insbesondere im sonst so leider stigmatisierten und problematisierten Bereich (Homo-)Sexualität ein völlig normales Leben führt. Das dürfte sicherlich nicht wenigen (nicht nur jungen) Menschen geholfen haben, zu sich selbst zu finden und zu sich zu stehen; ein Verdienst, der vermutlich deutlich positiver zu bewerten ist, als das gefühlt zweihundertste öffentlich-rechtliche Themendrama, in dem Homosexualität vor allem als Problem und Gefahr für die eigene Identität und das eigene Leben thematisiert wird.

Was Phil darüber hinaus jedoch zur universellen Identifikationsfigur im Hörspiel macht, sind die Gefühle, die er und mit ihm der Hörer er- und durchlebt, die universell sind. Auch seine Entwicklung vom introvertierten „Beobachter“ hin zu der Figur, der Person, die durch die Erfahrungen (zwangsweise) reift und (endlich) beginnt, für sich Entscheidungen zu treffen, auch schwierige, werden viele nachvollziehen können, egal ob selber gerade 17 oder bereits 57 Jahre alt. Sei es im Bereich Familie, im Bereich Erwachsenwerden, der Frage nach der eigenen Identität, oder auch im Bereich Liebe. Deshalb ist „Die Mitte der Welt“ gleichzeitig wichtig und wäre, um ein Interview mit den beiden Hauptdarstellern Louis Hofmann und Jannik Schümann der Verfilmung (die ich bislang nicht gesehen habe) einzubringen, exakt die gleiche Geschichte, hätte die gleiche emotionale Tiefe, wäre Phil nicht mit Nicholas, sondern mit Nicole zusammen. Diese tatsächliche Gleichwertigkeit derart locker rüberzubringen, das ist eine Glanzleistung gewesen und heute (leider) immer noch extrem wichtig: Liebe ist Liebe, egal ob wie hier zwischen Mann und Mann, Frau und Frau oder Mann und Frau.

Das Hörspiel:

Die dezent und unmerklich gekürzte Umsetzung des Fast-500-Seiten-Epos liegt in drei Teilen vor. Die Gesamtlaufzeit beträgt 6:05:37 Stunden. Eine Länge, die bereits deutlich macht, dass es keinesfalls für ein „mal eben nebenher“-Erlebnis gedacht ist.

Katrin Berger und Tom Raczko inszenieren „Die Mitte der Welt“ bewusst sehr nah und – wenn möglich wortwörtlich – an Steinhöfels Vorlage. Dies erweist sich als kluge Entscheidung: Die oft märchenhafte und vor allem extrem metaphorische Sprachgewalt Steinhöfels bleibt somit erhalten und schon allein sprachlich durchzieht das Hörspiel somit diese unnachahmliche Art, die den Wechsel zwischen locker-leichten und wunderschönen Szenen und emotionalen Tiefschlägen in ein poetisch-filigranes Gewand kleidet, das man so selten hört, darüber hinaus noch derart passend. Oder fachlich ausgedrückt: Steinhöfels teils hypotaktischer Stil, die Art der nicht-linearen, assoziativen Erzählung, das allein macht aus „Die Mitte der Welt“ bereits ein wunderbares Erlebnis, das jedoch die volle Aufmerksamkeit des Hörers erfordert.

Ein Punkt der Produktion muss noch vorab erwähnt werden: Das Hörspiel entstand über einen Zeitraum von 1½ Jahren. Rechnet man die Erstellung des Skripts dazu, sind es sogar fast 2 Jahre Produktionszeit. Zu einer Zeit, als ein Großteil aus Produktion und Cast während der Produktion noch seine Schullaufbahn absolvierte. Eine derart umfangreiche und vom Stoff her schwierige Produktion zu stemmen, das macht man nur, wenn einem das Medium Hörspiel *wirklich* am Herzen liegt. Dass man zudem auch eigene Dramatisierungsideen [und Stilmittel] einbringt, zeigt, dass hier tatsächlich Leute am Werk sind, die um die Möglichkeit des Hörspiels als solches wissen und keine sklavische 1:1-Umsetzung ohne eigene Ideen abliefern möchten.

Die Sprecher:

„Die Mitte der Welt“ besticht, wie eingangs erwähnt, durch eine sehr assoziative Erzählweise, die sich jedweder Linearität verweigert. Inszeniert wird dies als Melange aus atmosphärischer Lesung und szenischem Realismus/Spiel. Da der Hörer die gesamte Erzählung rein subjektiv durch Phils Augen miterlebt, hätte eine Fehlbesetzung dieser Hauptrolle die gesamte Produktion torpedieren können. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Tom Raczkos Phil ist die wortwörtlich perfekte Besetzung für die Rolle. Nicht nur die langen inneren Monologe, die Beobachtungen, sondern auch, bzw. vor allem die emotionalen Höhen und (verdammt tiefen) Tiefen, die Phil erlebt, spielt er – mit einem Gespür für präzise Betonungen zudem – unfassbar gut und in einigen Szenen, auf die ich aus Spoilergründen nicht eingehen möchte, mit einer emotionalen Wucht, dass es fast schmerzt – im positiven Sinne.

Katrin Berger spielt Phils beste Freundin Kat ebenfalls punktgenau. In Kats flippigen Momenten ist sie genau das, in den ruhigeren Augenblicken hingegen überzeugt sie ebenfalls und es wird problemlos klar, weshalb sie Phils beste Freundin ist.

Etienne Pattbergs Nicholas passt mit seiner teils distanzierten oder ausweichenden Art ebenfalls wunderbar. Es mag anfangs irritierend sein, denn Nicholas agiert nicht auf einem stimmlich-emotionalen Level, wie es beispielsweise Phil tut. Im Laufe des Hörspiels wird jedoch klar, dass es tatsächlich bewusst so gemacht ist, denn Nicholas, so viel sei verraten, hat Schwierigkeiten damit, komplexe Emotionen zu äußern. Die Hintergründe sind dabei ebenso nachvollziehbar wie tragisch und somit passt der auch in die Sprechweisen hineingetragene Unterschied zwischen Phils und Nicholas‘ Wesenseigenschaften hervorragend.

Phils Mutter Glass wird von Julia Burkhardt gesprochen. Und hier muss ich zugeben: Auch ich bin anfangs in die von mir seit „Captain America: Civil War“ genannte ›Tante-May-Falle‹ getappt. Die Tante-May-Falle funktioniert folgendermaßen: Man sieht (oder hört) eine Figur, die man durch Begrifflichkeiten wie Tante oder Mutter als deutlich älter einschätzt, als sie im Film (respektive Hörspiel) ist; bei Spider-Mans Tante May ist man vor allem durch Sam Raimis Interpretationen der wirklich alten Tante, Quasi-Großmutter, so darauf getrimmt, dass einem die bei „CA:CW“ 52-jährige Marisa Tomei viel, viel zu jung vorkam. Und so liest man bezüglich „Die Mitte der Welt“ hier und da auch gern, dass Julia Burkhardt viel zu jung für die Rolle von Phils Mutter klinge. Nun die Frage: Ist es wirklich so? Man muss sich bewusst machen, dass die Figur der Glass mit 17 Jahren aus den USA nach Deutschland auswanderte und die Zwillinge Phil und Dianne kurz nach der Ankunft und auf recht abenteuerliche Weise zur Welt brachte. Phil ist in der „Jetztzeit“ des Hörspiels ebenfalls 17 Jahre alt, ergo ist Glass mit 34 Jahren tatsächlich nicht alt – und daher passt Julia Burkhardt für mich durchaus und gut zu dieser ohnehin recht eigenwilligen Figur.

Dianne, Phils Zwillingsschwester, hat mit Mira David ebenfalls eine sehr gute Stimme erhalten. Dianne ist eine der interessantesten Figuren, da sie einen der dramatischsten Handlungsstränge vorantreibt und fast durchweg mysteriös, teilweise sogar mystisch anmutet. Nicht nur, aber besonders in ihr wird beispielsweise auch Steinhöfels offenkundige Liebe zu antiken Mythologien erkennbar (nein, keine Sorge, sie wird sich am Ende nicht Diana Prince oder Wonder Woman nennen, auch wenn sie in „Mitte“ ebenfalls mit einem Bogen bewaffnet gegen ihre Gegner zu Felde zieht). Mira David spielt diese Figur mit genau der Prise Entrücktheit, die es braucht, um die Figur der Dianne gerade soweit mysteriös erscheinen zu lassen, ohne dass sie ins Unglaubliche abdriftet.

Wenn man nun aber unbedingt das Haar in der Suppe suchen möchte, könnte man bei den deutlich jüngeren oder deutlich älteren Figuren fündig werden – denn einige dieser werden ebenfalls von den jungen Sprechern gesprochen. Warum dies für mich jedoch so gut wie gar nicht ins Gewicht fällt? Zum einen ist es, wie erwähnt, eine freie Produktion, die von damals größtenteils noch Schülern umgesetzt wurde. Das meine ich nicht als Entschuldigung, sondern – wie weiter oben erwähnt – anerkennend. Dass da nicht jede Nebenrolle eines 500-Seiten-Epos mit dem jeweiligen Stimmalter besetzt werden kann, sollte offensichtlich sein. Zum anderen aber hat Steinhöfel bereits in der Vorlage ein wunderbar einfaches, jedoch unglaublich effektives Stilmittel verwendet: Sobald Phil seine Kindheit Revue passieren lässt, passt sich auch die Sprache aller Agierenden an das Alter an. Das und der Fakt, dass das Hörspiel bewusst nicht naturalistisch, sondern atmosphärisch inszeniert ist, sollte man berücksichtigen, bevor man zur virtuellen Forke greift.

Musik & Effekte

Die enorme Bandbreite an Emotionen und Atmosphäre der Handlungsstränge und Charaktere findet sich auch in der Musik wieder. Von mystischen Synthieeinwürfen, Blueselemente hin zu verträumten oder verspielten Klaviermotiven: Tom Raczko schafft es, die ganz eigene Atmosphäre der Vorlage aufzugreifen und in eingängige Stücke zu bringen, die auch abseits des Hörspiels funktionieren und somit weit mehr als bloße Begleitungen sind. Den elf Stücke umfassenden Original-Soundtrack gibt es ebenfalls kostenlos als Download.

Die Effekte dienen bei einer Geschichte wie „Die Mitte der Welt“ nicht als Selbstzweck, sondern dazu, die Handlung realistisch zu untermalen. Genau das schafft man hier: Nicht aufdringlich, doch mehr als genug, um Phils Welt real wirken zu lassen.

Fazit:

„Die Mitte der Welt“ ist für mich eine der wichtigsten und zugleich tragisch-schönsten Erzählungen der letzten Jahre. Der Ausgangsstoff, obschon Jugendbuch, ist hochkomplex, kunstvoll verschachtelt und trotzdem zugänglich, obwohl er sich nicht kategorisieren lässt. Sobald man sich auf das Hörspiel einlässt, begibt man sich wortwörtlich in eine teilweise märchenhafte, teilweise auch sehr verstörend reale Welt, die so kunstvoll durch ihre Sprache und vor allem durch die Sprecher der Hauptfiguren getragen wird, dass ein Aussteigen nur sehr schwer möglich ist. Die emotionale Wucht, die den Hörer vor allem am Ende trifft, ist zudem etwas, das ich bislang nur aus Theaterstücken kannte – Katharsis im Hörspiel habe ich bislang nicht wirklich erlebt. Und dennoch: „Mitte“ ist keine reine Tragödie, auch wenn viele Elemente nebst ausgearbeiteter Katastrophen für die Hauptcharaktere vorhanden sind. Es geht nicht um „Tod und Verderben“ (ok, schon – zumindest bis zu einem gewissen Maß), sondern -in Phils Fall- primär um Identitätsfindung (und dabei ist die Erzählung wirklich effektiv), oder anders ausgedrückt: Um die Suche nach der, ja, eigenen Mitte der Welt.

Die positiven textlichen und stimmlichen Aspekte werden von einem wortwörtlich märchenhaften Score begleitet, der die ohnehin schon ganz eigene Atmosphäre der Erzählung und des Hörspiels einfängt und potenziert. Dazu sorgt eine solide Geräuschuntermalung dafür, dass dieses 6-Stunden-Epos auch in diesem Bereich funktioniert.

tl;dr:

Eine freie Produktion, inszeniert und größtenteils gesprochen von damals gerade-noch-Schülern, die in ihrer Gesamtheit nicht nur wunderbar, regelrecht großartig ist, sondern darüber hinaus auch noch einen nicht unerheblichen Teil kommerzieller Produktionen in Sachen Kunstfertigkeit, Liebe zum Medium und Charakterisierungen hinter sich lässt. Für mich persönlich reiht sich „Die Mitte der Welt“ ein in die Riege meiner Lieblingserzählungen, in der sich u.a. auch William Goldings „Der Herr der Fliegen“, John Christophers „Tripods“-Trilogie, Chuck Palahniuks „Fight Club“, Peter Shaffers „Equus“ oder „American Psycho“ aus der Feder von Bret Easton Ellis befinden, allesamt Werke, die sich mit dem Thema „Suche nach der eigenen Identität“ und/oder „eigene Identität vs Gesellschaft“ befassen.

Die Mitte der Welt“ ist definitiv hörenswert und daher spreche ich eine glasklare Empfehlung für diese schöne (und heute leider wieder sehr wichtige) Produktion aus, die für viele mehr sein kann (oder schon ist), als „nur“ ein verdammt gutes Hörspiel.

Cover­ge­stal­tung:
Stephan Giesau, Raoul Pattberg

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